Jeanny Wasielewski

Scriptwriter and Journalist

Indiens Frauen schlagen zurück

published March 2014

 

Dreitausend indische Mädchen und Frauen lernen sich gegen sexuelle Gewalt zu wehren. Debi Steven, Selbstverteidigungs-Lehrerin aus London, will den Unterricht auf ganz Indien ausbreiten. Jeanny Gering hat sie für FOCUS ONLINE nach Indien begleitet. 

Girl kicking a trainer on the floor during an attack

Girl kicking a trainer on the floor during an attack

“Das einzige was ihr heute tun müsst ist, daran zu glauben, dass ihr stark genug seid euch gegen einen Mann verteidigen zu können. Daran müsst ihr wirklich glauben.” Die Aufforderung, sich einem Mann zu widersetzen, haben viele der Schülerinnen wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben gehört. 

Es ist acht Uhr morgens, Schulbeginn in Alleppey, einer Kleinstadt an der Küste von Kerala. Der Bundesstaat ist bekannt als ein besonders friedlicher und traditionsreicher Teil Indiens, mit einer Alphabetisierungrate von 90 Prozent bei Männern wie Frauen, was selbst für westliche Standards selten ist. Weniger bekannt ist, dass Kerala auch eine der höchsten Vergewaltigungsraten des Subkontinents aufweist. Deswegen ist Debi Steven hier, um Mädchen und Frauen in Selbstverteidigung auszubilden. 

Es ist der erste Tag von zwei Wochen harter Arbeit für die Kampfsportlerin und ihr Team. Entschlossen steigt sie aus einem weissen Jeep, der vor dem St. Francis College gehalten hat. Hier wird sie in einem vierstündigen Workshop zweihundert Mädchen im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren unterrichten. “Was ich den Mädchen beibringe, hat nichts mit Kampfsport zu tun”, sagt die burschikose, jugendlich wirkende Frau. “Einen Kampfsport wie Karate kann man nicht in vier Stunden lernen, dazu braucht man Jahrzehnte. Aber ich kann den Mädchen zeigen, was sie wissen müssen um sich zu schützen.” 

Girls watching an attack

Girls watching an attack

Dicht gedrängt warten die Mädchen in der Schule auf die angekündigte Lehrerin aus London, zu viert oder fünft teilen sie sich die schmalen Schulbänke. Eine Mischung aus Vorfreude, Neugier und ein bisschen Angst liegt in den vielen Augen, die auf Debi Steven gerichtet sind, als sie in das große Klassenzimmer kommt. Der Workshop soll die Mädchen so realitätsnah wie möglich auf einen körperlichen Übergriff von einem Mann vorbereiten. Daher sind die meisten Trainer bei “Action Breaks Silence” auch Männer. In Kerala arbeitet Debi Steven mit einer Gruppe von indischen Kampfsportlern zusammen, die sie zu Selbstverteidigungs-Trainern ausgebildet hat. Die sogenannten Kalari-Kämpfer werden auch nach Debis Abreise von ihrer Organisation “Action Breaks Silence” unterstützt. Sie sollen die Workshops weiterführen und auf den ganzen Bundesstaat ausweiten.

Die soziale und familiäre Struktur, in der die Mädchen aufwachsen, ist zutiefst patriarchalisch. Die meisten von ihnen kommen aus Familien in denen der Vater Fischer und die Mutter Hausfrau ist. Wenn man die Mädchen fragt, was sie einmal werden wollen, geben fast alle “Lehrerin” oder “Krankenschwester” zur Antwort. Zwei der wenigen Berufe, die als gesellschaftlich angemessen für Frauen gelten. 

“Im Vergleich zu meinen Schülerinnen in London sind die Mädchen hier alle unglaublich schüchtern” sagt Debi Steven. Sie verbringt fast eine Stunde damit, den Mädchen zu erklären, dass sie sich bei einem Angriff verteidigen müssen. Eindringlich spricht sie zu ihnen über Selbstbewusstsein und stellt ihnen Fragen wie: “Meint ihr ein Mann, der euch sexuell belästigt, respektiert euch?” und “Egal was man euch sagt, kein Mann hat jemals das Recht, euch sexuell zu belästigen” oder “Es ist niemals die Schuld der Frau, wenn sie von einem Mann vergewaltigt wird”. Aufmerksam und fast ungläubig hören die Mädchen ihr zu. 

Boxen, treten, kratzen, schreien

An attack

An attack

Dann kommt Debi zu den ersten Demonstrationen. Unterdrücktes Gekicher ist zu hören, als sie einen der Trainer mit einem einfachen Schlag auf die Halsschlagader in die Knie zwingt, ihm gezielt in den Schritt greift oder mit dem Knie in den Brustkorb tritt. Die Mädchen schauen konzentriert zu, halten sich an ihren Mitschülerinnen fest, andere schütteln zurückhaltend den Kopf. “Ihr müsst eurem Angreifer Schmerz zufügen, nur so könnt ihr euch im Ernstfall retten.” Debi spricht die Mädchen direkt an und fordert sie schließlich auf, die einzelnen Bewegungen und Griffe auszuprobieren. Diszipliniert befolgen die Mädchen alle Anweisungen des “Action Breaks Silence” Teams. Es dauert, bis die Atmosphäre sich lockert und die Mädchen sich auch wirklich trauen, zu boxen, zu treten, zu kratzen und vor allem zu schreien. 

Am Ende des Workshops wird jedes Mädchen von einem der Trainer angegriffen. Rojeena ist als erste an der Reihe, sie lächelt, beißt sich auf die Lippen und traut sich fast nicht in die Mitte des Raums zu treten. Geschützt durch Helm und Schutzkleidung greift einer der Trainer nach ihr, Rojeena  wehrt sich erst zögerlich, doch die geübten Trainer lassen die Mädchen erst los, wenn sie die richtigen Taktiken anwenden. Als Rojeena merkt, dass sie sich nicht gleich lösen kann, werden ihre Bewegungen wilder, sie schreit, tritt und kratzt. Dann gibt der Trainer sich geschlagen. Rojeena hat ihn im Schritt getroffen, er liegt am Boden, aber sie hört nicht auf zu treten, bis Debi ruft: “Lauf, lauf weg! Ihr müsst immer weglaufen wenn ihr könnt.” 

Mit jedem Mädchen, das den Angriff hinter sich bringt, steigert sich die mit Adrenalin geladene Stimmung, es wird laut und hektisch im Raum. Die Mädchen feuern ihre Mitschülerinnen an und jubeln jedes Mal, wenn eine von ihnen den Angreifer besiegt. Der Workshop ist erst zu Ende, wenn jede sich einmal getraut hat. Debi sagt: “Es geht darum ihnen zu zeigen, dass sie diese Kraft in sich haben. Jede Frau hat es in sich, sich zu verteidigen. Es wird ihnen nur nie gesagt.” 

 

 „Sie trauen sich nicht einmal zu weinen“

Debi and a student 

Debi and a student 

Nach dem Workshop kommt der Direktor der Schule auf Debi zu und bedankt sich. Er meint: “Unsere Mädchen sind manchmal so schüchtern, sie trauen sich nicht einmal zu weinen. So werden sie erzogen.” Und was hat der Workshop für Rojeena verändert? “Ich glaube ich könnte mich jetzt verteidigen” sagt sie lächelnd. “Also abends, oder wenn es dunkel wird, gehe ich natürlich trotzdem nicht raus. Aber wenn ich jetzt allein Bus fahren muss, dann habe ich weniger Angst.” In den kommenden Monaten hat Debi Steven Workshops in Delhi, Mumbai und Lucknow geplant. An jedem Ort wird sie Trainer ausbilden, damit ihre Organisation so viele Mädchen wie möglich erreichen kann. “Wenn ich auch nur eine Frau vor einer Vergewaltigung rette”, sagt Debi Steven, “hat sich meine Arbeit gelohnt.”